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    MEIN NACHBAR. TEIL 3

    Es war sehr kühl und windig in Paris an einem Tag im Juli und die Sonne gab sehr wenig Wärme als mein Nachbar, ganz aufgekratzt, seine Chefin in dem Pariser Büro, in der Rue Martre begrüßte.


    „Wir bewundern deine Berichte und alle Schriftstücke von dir. Sie sind sehr schön, amüsant und mit Humor geschrieben. Aber wenn du jetzt sprichst, ist dein Englisch mit dem schriftlichen Englisch nicht zu vergleichen. Aber ich kenne das von meinem Sohn. Er kann auch besser schreiben als sprechen. Oder – schreibt dir jemand diese Texte?“



    „Ja. Ja. Mein Nachbar macht die Korrekturen für mich. Er ist Coach und seine Muttersprache ist Englisch“.

    Inzwischen war es Abend geworden, und die kühle Luft wehte auch durch die ganze Stadt, in der wir wohnen. Ein Stückchen Himmel über mir färbte sich rosarot und als ich nach Hause kam, legte ich meinen Mantel auf die Couch und setzte mich auf den Stuhl.

    Plötzlich bildete ich mir ein, Schritte im Treppenhaus zu hören, aber es war natürlich eine Täuschung.

    Es war noch viel zu früh für meinen Nachbar, obwohl er mir vor einer Stunde eine E-Mail geschrieben hat, bald zurück zu kommen und sich bemerkbar zu machen.

    Während ich mich später mit meinen Schallplatten beschäftigte, stand mein Nachbar vor meiner Tür und gab mir seine Hand zur Begrüßung.

    Er sah schrecklich aus. Er war emotional und körperlich erschöpft. Sein Gesicht war aufgedunsen und mit Alkohol überschwemmt, seine Augen waren dick geschwollen, unter den Augen sah ich Augenschatten und Ringe und sein Gesichtsausdruck wirkte auf mich völlig müde und schlaff.

    An diesem Abend, als ich seine Erschöpfung gespürt habe, wusste ich wie viel Anstrengung sein Job, seine Sauftouren und seine Ausflüge spät in der Nacht, diesen Mann kosten und ihn fast zu Boden drücken.

    Es war schon wieder gegen drei Uhr früh und schon so hell, dass wir ohne Licht schreiben konnten und ich hatte in meinem Bauch das Gefühl, das ich Unbehagen nenne, und je länger ich seine Berichte in dieser Nacht schriftlich festhielt, war es mir mulmig, schlecht und elend.

    Er saß neben mir wie ein Mensch aus Eis, Glas, Stein, Stahl und Beton und die ganze Zeit hat er sich nie vom Platz gerührt und nicht einmal mit seiner Hand drückte er seine Anerkennung aus oder einen Zuspruch, Ehrung und nicht zu erwähnen, ein wenig Lob für meine Arbeit.  

    Alles, was ich gespürt habe, war nicht vorübergehend, und ich werde die Wohnung von diesem Mann nie wieder betreten und in dieser Nacht habe ich mich entschlossen, meinem Nachbar nie mehr behilflich zu sein und wenn überhaupt, dann nur gegen Bezahlung und ich beschloss, meine nachbarschaftliche Beziehung zu diesem Mann sofort zu beenden, denn in meinem Kopf war seit Tagen für diesen Menschen nichts mehr übrig geblieben.

    Am nächsten Tag, beim ersten Frühlicht wollte ich meine gewöhnte Arbeit wieder aufnehmen aber angezogen legte ich mich wieder hin, denn ich konnte vor Erschöpfung nicht schlafen, obwohl es in der Nacht ganz still war.

    Mein Nachbar hat mir, mit seiner Kälte meine Seele verletzt und mir den Schädel eingeschlagen und ich gab meine geplante aber dennoch sinnlose Flucht auf und stellte mich meinen Gedanken. Es kam aber dabei gar nichts heraus. Dieser Mann hat mich benutzt, ausgelaugt, ausgenommen und völlig ausgemergelt.

    Gegen Mittag stand ich doch auf und schaltete meinen Computer ein. In der letzten Zeit braucht das Gerät eine unheimliche Weile, bis alle Programme hochgefahren sind.

    Es wurde sehr hell in meiner Wohnung und frostig aber mein Nachbar war gestern noch kälter als das Zimmer und als der Windzug, der aus der Küche kam und ich fror plötzlich, obwohl ich schon sehr warm angezogen war und es kam mir vor, als ob meine Kleider schmutzig und verkommen wären. Sie sind aus teurem Stoff und von einem guten Schneider genäht worden aber ich brauchte sie nicht unbedingt an diesem Tag zu tragen, denn selbst mein besticktes Hemd schien mir richtig hässlich zu wirken.

    In meinem Postfach konnte ich an diesem Morgen eine Nachricht gar nicht verfehlen.

    „Mark, nochmal vielen Dank für deine Hilfe mit der E-Mail. Hast mir sehr geholfen und am Telefon habe ich gerade schon die direkte Rückmeldung bekommen, dass es kein Problem ist und das niemand böse ist.

    Wünsche dir einen schönen Tag und gerne lade ich dich als Dankeschön auf einen Kaffee oder zum Essen ein“.

    Aber ab jetzt habe ich anderes zu tun. Sobald das Wetter schöner wird, werde ich ans Meer fahren und meine kleine Dachwohnung umbauen und sie neu gestalten und es wird mir auch gelingen, die Wände oben zu streichen. Ich weiß noch nicht wie, aber es wird mir bestimmt noch einfallen.

    Ich werde meinem neuen Nachbar ganz fern sein und werde ihn nicht mehr beachten und ich hoffe, er wird mich nicht mehr bewachen.

    Es war am vierundzwanzigsten Juli und es war gegen neunzehn Uhr als ich nach Hause kam und schon brannte das Licht im Treppenhaus und als ich ganz leise an seiner Treppe vorbeiging, öffnete mein Nachbar seine Wohnungstür. Er hat fast fünfzehn Minuten dazu gebraucht, seine gekaufte Einkaufsliste mir aufzuzählen. Frisches Fleisch und noch dazu dreihundert Gramm, Schinken, Pizza, Käse und noch so viele Sachen, dass ich ganz ruhig vor ihm stand und ich werde es nie erfahren, was er noch alles in seiner Stofftasche eingekauft hat.

    In diesem Moment stellte ich fest, dass dies alles mit diesem Mann noch nicht das Ende ist und alles geht vorwärts und ich habe ein Stück weiter gesehen und in meinem Bauch habe ich gespürt, dass etwas Neues kommt heran, und ich kann mich ihm nicht entziehen.

    Die Erinnerung als mein Nachbar doch keine Lust hatte, mich zum Essen einzuladen, und dieses bittere, enttäuschende Gefühl und seine unhöfliche Art, mir seine Unlust mitzuteilen,  werden bleiben und ich denke, solange ich lebe.

    „Wenn du keine Lust hast, dann lass es lieber“.

    „OK. Ich mache was. Komm in zwanzig Minuten. Um acht“.

    Auf seiner Reise von Planet zu Planet begegnet der kleine Prinz immer wieder Menschen, die nur mit sich beschäftigt sind, keine Zeit haben und dabei die wichtigsten Werte im Leben verdrängt haben.

    Doch diese unsichtbaren Dinge sind bei genauer Betrachtung wichtig, denn man sieht nur mit dem Herzen gut und das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.

    Heute, nach so vielen Jahren habe ich nicht nur das eine Buch von Saint-Exupéry gelesen aber manchmal erscheinen mir viele Bücher fremd und langweilig und nur das eine Buch steht vorne in meinem Regal und ich gehe immer wieder dorthin wie auf die Lichtung, um das Buch nochmals in die Hand zu nehmen.

    An einem Tag sagte der Fuchs: „Du darfst nicht zu irgendeiner Zeit kommen, du musst immer pünktlich kommen, denn wenn du zum Beispiel um vier Uhr Nachmittag kommst, dann kann ich schon um drei Uhr beginnen, glücklich zu sein. Und um vier werde ich mich schon aufregen und beunruhigen, dann werde ich den Preis des Glücks entdecken“.

    Nachdem ich mich umgezogen habe, ging ich die Treppe runter ganz pünktlich um zwanzig Uhr, obwohl ich mir die Zeit hätte lassen können aber ich habe unerwartet schnell von dem kleinen Prinz gelernt, durch die Pünktlichkeit, eine Person zu respektieren, diese Person für wichtig zu nehmen und vor allem, meine Zeit effektiv zu beherrschen.

    Zehn Minuten, zwanzig Minuten und dann dreißig Minuten waren vergangen, und ich hatte alles getan, was ich hätte tun können, damit der Abend zwischen uns nicht mit der gespielten Fröhlichkeit, mit der erzwungenen Freundschaft und mit der übertriebenen Lebenslust vom Weg abkommt aber die Fröhlichkeit von meinem Nachbar schien mir völlig zementiert gewesen zu sein.

    Am Abend, um einundzwanzig Uhr, als ich wieder hoch in meine Wohnung ging, hatte sich der Himmel bezogen, denn ich schaute nach oben und durch die Lichtkuppel im Treppenhaus, sah ich wie es regnete und ich wusste, dieser Regen bedeutete das Aus für diesen Mann.

    Jetzt schien es mir kälter geworden zu sein. In der Nacht schlief ich trotz meiner Müdigkeit sehr schlecht, aber es störte mich nicht, denn ich lag ganz bedürfnislos, lang ausgestreckt und dachte erschöpfend, bis mir einmal plötzlich der Gedanke kam, dass es doch eine große Verschwendung sei, in dieser Nacht überhaupt zu schlafen.   

    Es regnete die ganze Nacht und ich schaltete meinen Computer ein, obwohl ich sehr müde war, aber ich konnte in dieser Nacht nur noch eine E-Mail an meinen Nachbar schreiben. Manchmal schloss ich die Augen, um nachzudenken und ich bewegte mich nicht, denn jede Bewegung schmerzte meinen Bauch, und ich wollte doch so sehr, endlich ohne Schmerzen und ganz still in dieser Nacht sitzen und nichts denken müssen.

    Guten Morgen Herr Nachbar.

    In deiner letzten E-Mail hast du geschrieben:

    „und gerne lade ich dich als Dankeschön auf einen Kaffee oder zum Essen ein.

    LG“

    Und gestern, am 24. Juli war ein windiger, grauverhangener Tag und am Abend, hast du mich zum Essen einladen wollen. Aus der Einkaufstasche hast du mir viele Sachen gezeigt und sogar Fleisch und es war unvernünftig von dir und unerträglich für mich, zu hören, dass du eigentlich keine Lust darauf hast.

    Um 20 Uhr, als ich in deine Wohnung kam, lag eine fertige, tiefgefrorene Frühlingsrolle auf den Tellern.

    Es war schrecklich schwer für mich, den Abend bis 21 Uhr mit dir zu verbringen, denn das „Essen“ mit dir war kein schönes, fröhliches, geheimnisvolles Zauber oder Fest gewesen, sondern eine peinliche Parade mit deinem Gesichtsverlust, mit deinem Geiz und auch eine Parade für deine Taktlosigkeit, Gefühllosigkeit und eine Blamage für deine Empathielosigkeit.

    Apropos Geiz – da empfehle ich dir das Buch von Molière – „Der Geizige“, früher als „Der Geizhals“ übersetzt. Obwohl, dann wieder nicht, denn du hast noch nie ein Buch gelesen und ich bin mir nicht sicher, ob dein Kopf ein wenig schwindelig von den vielen Gedanken wird.

    Diese eine Stunde bei dir war wie ein sterbendes Fest für mich, denn du warst müde, lustlos, blasiert, unehrlich, kraftlos und ganz ohne Glanz, so wie du als Mensch immer bist. Und um 21 Uhr hast du mich gebeten, mein Glas nach oben zu nehmen, denn du warst lahm, trüb und matt.

    Und dazu schrecklich unhöflich als du mich plötzlich ausgeladen hast!

    „Du kannst den Wein oben austrinken. Ich habe viele Mädchen hier bei WhatsApp, die mit mir schlafen wollen. Ich will mir jetzt eins bestellen“.

    Denke daran, dass du nie im Leben ein schönes, kluges, gebildetes und anziehendes Mädchen finden wirst wenn du die Abende mit einer Frau so verbringst, wie gestern mit mir.

    Für solche Abende wie gestern, für 99 Cent, bekommst du nur noch Reste mit einem Loch.

    Daher für den Abend kann ich nicht mal „Danke“ sagen, denn mir geht es bis heute erbärmlich, schäbig und elend. Wenigstens habe ich eine Vorlage für einen neuen Blog.

    Dein Nachbar.

     

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